Als mein Bruder zur Welt kam (am 29. Juni 1945), wusste meine Mutter nicht, ob ihr Mann, von dem sie seit Jänner keine Nachricht mehr erhalten hatte, überhaupt noch am Leben war. Sie hatte bereits zwei kleine Mädchen, meine Schwester Elvira und mich. Ich, die Älteste, war noch keine vier Jahre alt. Trotz der keineswegs rosigen Lage, in der sich meine Mutter damals befand, freute sie sich sehr über ihren ersten Sohn und er erhielt bei der Taufe als Einziger von uns insgesamt fünf Kindern gleich drei Namen: Helmut, Gustav und Alois.
Im September kam unser Vater aus der russischen Gefangenschaft (einem Gefangenenlager stationiert in Polen) zurück. Er sah eher wie ein Geist aus und erholte sich nur langsam von monatelangem Hunger, Durchfall und der Angst vor der Verschleppung nach Russland.
So knapp nach Kriegsende war die medizinische Betreuung von Säuglingen weit entfernt von den heute geltenden Standards. Viele Ärzte waren entweder geflohen oder ermordet worden, weil sie jüdischer Abstammung waren, oder gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. So kam es, dass man bei Helmut erst im Alter von acht Monaten feststellte, dass er drei äußerlich nicht sichtbare Kröpfe hatte, die ihn am Schlucken jeglicher nicht ganz dünnflüssiger Nahrung hinderten. Zum Glück konnten diese Kröpfe durch Einmassieren einer (wahrscheinlich jodhaltigen) Salbe in Helmuts Oberschenkel zum Verschwinden gebracht werden. Innerhalb kürzester Zeit begann Helmut brav zu essen und hörte bis heute nicht damit auf. Einige Monate später stellte die Kinderärztin fest, dass sich bei Helmut die Fontanelle etwas zu früh geschlossen hatte. Später, als meine Eltern feststellen mussten, dass sich mein Bruder beim Sprechen lernen schwertat, mutmaßte die Ärztin, dass zwischen dem verfrühten Zusammenwachsen der Fontanelle und der verzögerten Sprachentwicklung ein Zusammenhang bestehen könnte.
Als Helmut in die erste Klasse Volksschule ging, gab seine Lehrerin meiner Mutter den Tipp, eine ehemalige Opernsängerin, die damals Sprech- und Gesangsunterricht erteilte, zu kontaktieren, was meine Mutter umgehend tat. Bald darauf besuchte uns Frau Jentschke, um Helmut kennenzulernen. Daraufhin wurde ein Nachmittag pro Woche vereinbart, an dem sie mit ihm arbeiten wollte. Eineinhalb Jahre lang wurde Helmut unterrichtet und er machte all die Sprechübungen, die auch angehende Sänger und Schauspieler machen müssen. Oft lauschten wir an der Tür und hörten ihn Wortgruppen und Sätze nachsprechen, wie beispielsweise: „Abraham a Santa Clara“, „Barbara saß noch am Abhang“ oder „Spitzfindig ist die Liebe“. Und siehe da, Helmut blühte auf, er machte große Fortschritte beim Sprechen und auch beim Verstehen im Unterricht. Dennoch blieb die Sprache sein Schwachpunkt und so wurde entschieden, dass er nicht in die Hauptschule gehen sollte, da die englische Sprache und erst recht die von der Aussprache stark divergierende Schreibung für ihn eine schier unüberwindliche Hürde gewesen wäre. So ging Helmut bis zum Ende der Schulpflicht in die Oberklasse der Volksschule und begann dann eine Vulkaniseurlehre.
Im Alter von etwa 15,5 Jahren hatte Helmut seinen ersten epileptischen Anfall. Das war ein großer Schock für die ganze Familie und der Beginn eines langen Leidensweges für meinen Bruder. Die Ärzte schärften ihm ein, weder Bohnenkaffee noch Alkohol zu trinken und keinen gefährlichen Sport auszuüben. Aber für einen Epileptiker ist nahezu jede Sportart gefährlich. Außerdem musste Helmut regelmäßig Tabletten einnehmen, die unangenehme Nebenwirkungen hatten. Er stellte fest, dass ihn die Tabletten müde machten und ihn hinderten, klar zu denken. „Vergaß“ er die Tabletten einige Tage lang, kam es prompt wieder zu einem Anfall. Kein Wunder, dass Helmut phasenweise an schweren Depressionen litt. Was ihm immer wieder half, war sein Interesse an Musik, Theater, Literatur und bildender Kunst. Schon sehr bald begann er mit den ersten Zeichen- und Malversuchen.
In meinem Wohnzimmer hängt ein Bild, eine Federzeichnung, die in der ersten Ausstellung von Werken meines Bruders gezeigt und zum Glück nicht verkauft wurde. Jedes mal, wenn ich es ansehe, bin ich stolz auf Helmut.
Brigitte Sampson